Was bedeutet das Urteil?

Mehr als fünf Jahre dauerte der Prozess, bevor das Oberlandesgericht München 2018 das Urteil im NSU-Prozess sprach. Dieser Tag war ganz besonders wichtig für die Angehörigen der Mordopfer und die Opfer der Anschläge: er bedeutete die Strafe für diejenigen, die ihnen dieses Schicksal aufgebürdet hatten. Zufrieden waren viele von ihnen dennoch nicht: Sie fanden, dass die Richter sich nicht gründlich genug mit den Strukturen in der rechtsextremen Szene beschäftigt hatten. Und dennoch: Im Urteil wurde festgestellt, welche Schuld die fünf Angeklagten mit ihrer Beteiligung am Nationalsozialistischen Untergrund trifft.

Richter Manfred Götzl
Hast du es in den Nachrichten mitbekommen? Am 11. Juli 2018 war davon überall zu lesen und zu hören: Das Urteil im NSU-Prozess fällt! Nach mehr als fünf Jahren und weit über 400 Verhandlungstagen. Die Straße vor dem Gerichtsgebäude war gesperrt, überall standen PolizistInnen, DemonstrantInnen hielten Transparente und vor dem Eingang hatte sich eine lange Schlange an ZuschauerInnen gebildet. Die ersten hatten sich bereits um 22 Uhr am Vorabend angestellt. Um kurz vor zehn Uhr passierte es dann tatsächlich: Richter Manfred Götzl verkündete das Urteil. Dafür erhoben sich alle im Saal von ihren Plätzen.
Die Angeklagten im Gerichtssaal des Münchner Oberlandesgerichts. Beate Zschäpe sitzt in der vorderen Reihe (zweite von rechts).
Zuerst verlas Götzl das Urteil über Beate Zschäpe. Es lautete auf lebenslange Haft. Zschäpe wurde als Mittäterin der Morde und Sprengstoffanschläge verurteilt, zudem wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung. Das Gericht stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest; damit kann Beate Zschäpe nicht nach 15 Jahren entlassen werden, wie es bei dem Urteil sonst möglich ist. Wie kam es zu diesem Richterspruch?

Die Begründung

„Was ist das für ein Urteil?“ Was also war die Rolle von Beate Zschäpe? Ohne sie, stellt der Richter fest, hätten die Taten des NSU nicht gelingen können. Sie war es, die dafür zuständig war, nach Tod oder Festnahme ihrer Mitstreiter eine DVD mit einem Bekennervideo zu verschicken – und damit das „finale Ziel“ der Anschlagserie zu erreichen. Ohne ihre Mitwirkung wären die Verbrechen „des ideologischen Inhalts beraubt worden“, mithin „sinnlos“ geblieben, argumentiert der Richter. Für ihn gibt es keine Zweifel, dass die Taten „im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Frau Zschäpe“ geschahen. (…)

Die Angeklagte war darüber hinaus in die bürgerliche Tarnung des Trios vor den Nachbarn daheim und die Planungen eingebunden. Für den Fall von Tod oder Festnahme war außerdem die Brandstiftung in der Wohnung vereinbart, um Beweise zu vernichten – nur eben nicht das Bekenntnis auf DVD. (Zeit Online, 11.7.2018)

Reaktionen

Das Urteil und der vorangegangene Prozess wurden in den Medien unterschiedlich kommentiert. In diesen Zitaten geht es um die Arbeit des Gerichts:

"(Die Angehörigen der Opfer) haben Anspruch auf Antworten: Der NSU-Prozess konnte sie nur zum Teil geben. Die Aufklärungsarbeit ist noch nicht abgeschlossen."
(Bayerischer Rundfunk, 11.7.18)
"Der Vorwurf, das Gericht habe sich vorzeitig auf die Verurteilung der Angeklagten festgelegt, ist fehl am Platz. Es ist eine Leistung des Vorsitzenden Richters, das Verfahren durch diverse Turbulenzen und Konflikte hindurch manövriert zu haben."
(FAZ, 11.7.18)
"Ein Gericht ist ein Gericht, keine Wahrheitskommission für Zeitgeschichte."
(Süddeutsche Zeitung, 11.7.18)

Was du beim Lesen dieser Zitate sicherlich gemerkt hast: Über die Arbeit und den Erfolg des Gerichts gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Insbesondere Angehörige der Ermordeten, Überlende der Attentate und verschiedene InteressenvertreterInnen übten im Anschluss Kritik, die du hier in Auszügen nachlesen kannst. 

"Ich hoffe nun, dass auch alle weiteren Helfer des NSU gefunden und verurteilt werden (...) Wenn das Gericht ehrlich ist, wird es auch noch sagen, dass Lücken geblieben sind. Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen.“
Gamze Kubasik, Tochter des in Dortmund erschossenen Kioskbesitzers Mehmet Kubasik
(Stuttgarter Zeitung, 11.7.18)
"Die Ermittlungsbehörden haben elf Jahre lang die rassistischen Tatmotive verkannt und durch eine teilweise offen rassistische Vorgehensweise eine rasche und umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes verhindert"
Amnesty-International-Mitarbeiterin Maria Scharlau
(Mitteilung Amnesty International, 11.7.18)
"Die Schuldsprüche im "#NSUProzess" sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Aufarbeitung des rechtsextremen Terrors und ein Sieg für den Rechtsstaat. Ein Schlussstrich unter die Mordserie können sie aber nicht sein."
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München
(Twitter, 11.7.18)

Mit der Verkündung des Urteils ist ein Gerichtsprozess allerdings bei Weitem noch nicht erledigt: Das Gericht musste im Anschluss noch eine ausführliche schriftliche Begründung des Urteils vorlegen, aus der ganz klar ersichtlich ist, welche Schuld die Angeklagten jeweils trifft. Das geschah erst geraume Zeit später: im April 2020, also nach beinahe zwei Jahren. Dafür war dieses Dokument sehr ausführlich – mehr als 3.000 Blatt Papier.

Und es bedeutet den nächsten Schritt: Die VerteidigerInnen der Angeklagten können auf Grundlage der Urteilsbegründung Revision gegen das Urteil einlegen. Das bedeutet, dass ein anderes Gericht, der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, die Entscheidung der Richter aus München überprüft. Sollten die Karlsruher RichterInnen der Meinung sein, dass es Fehler im Urteil gibt, müsste im Extremfall der Prozess wiederholt werden. Damit wird jedoch nicht gerechnet. Außerdem überprüft der Bundesgerichtshof ausschließlich juristische Fehler; also, ob die KollegInnen aus München korrekt gearbeitet haben. Sie laden nicht noch einmal Zeugen oder schauen sich Beweise an.

Nach dem Prozess

Möchtest du verfolgen, wie es im Fall NSU weitergeht? Dann solltest du dich auf dem Laufenden halten. Hier findest du Entwicklungen, die auch nach dem Urteil im Prozess noch nicht abgeschlossen sind. Darum kann sich dort jederzeit etwas tun!

Wie es weitergeht:

– Vier der fünf Angeklagten haben gegen ihr Urteil Revision eingelegt.
Diese Fragen kannst du dazu stellen: Hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, ob er die Revision annimmt? Hat vielleicht einer der Verteidiger seinen Revisionsantrag schon wieder zurückgezogen?

– Bis auf Beate Zschäpe sind alle Angeklagten in Freiheit.
Diese Fragen kannst du dazu stellen: Ist Beate Zschäpe in ein anderes Gefängnis verlegt worden? Hat einer der anderen Angeklagten seine Strafe bereits verbüßt? Muss jemand überhaupt nicht mehr in Haft, weil der Rest der Strafe nach der Untersuchungshaft zur Bewährung ausgesetzt wird?

– Die Bundesanwaltschaft führt weitere Ermittlungsverfahren gegen neun Verdächtige und eines gegen unbekannt.
Diese Fragen kannst du dazu stellen: Ist in einem oder mehreren der Verfahren bereits Anklage erhoben worden? Gab es womöglich sogar schon einen Prozess und ein Urteil? Sind die Verfahren eingestellt worden? Aus welchen Gründen? Sind neue Verdächtige hinzugekommen?

– Viele Neonazis haben sich gefreut, dass die noch immer rechtsextremen Angeklagten Ralf Wohlleben und André Eminger nach dem Prozess in Freiheit gekommen sind.
Diese Fragen kannst du dazu stellen: Was machen sie heute? Wurden sie auf rechtsextremen Kundgebungen oder Demonstrationen gesehen? Werden sie vom Verfassungsschutz oder der Polizei beobachtet?

Natürlich findest du aktuelle Nachrichten, wenn du die entsprechenden Suchbegriffe eingibst. Du kannst dazu aber auch gezielt aktuelle Nachrichten, Hintergrundinfos, Bücher oder Projekte recherchieren:

Aufgaben

Recherchiere eigenständig im Internet nach den Urteilen gegen die Unterstützer des NSU. Sie heißen:
– Ralf Wohlleben
– Carsten Schultze
– André Eminger
– Holger Gerlach

In diesem Kapitel findest du zahlreiche Reaktionen auf das Urteil. Fasse die wichtigsten Aussagen zusammen, schreibe selbst deine persönliche Meinung zum Urteil auf und begründe sie kurz.

Viele Opferfamilien leiden bis heute unter den Taten; auch, weil das Gericht nicht alle Hintergründe aufklären konnten. Schreibe aus Sicht einer Opferfamilie einen Brief an das Gericht und beschreibe deine Gefühle im Bezug auf das Urteil.

Recherchiere im Internet, ob das Thema NSU-Prozess auch in den Jahren danach noch eine Rolle in den Medien gespielt hat und fasse in Stichworten zusammen, was seit dem Urteil passiert ist.

Bildquellen

  • Angeklagte im NSU-Prozess: dpa/Peter Kneffel